Schwangerschaftsdiskurse in alternativ-religiösen Milieus zwischen 1840 und der Gegenwart

In den vergangenen Jahrzehnten erschienen zahlreiche Publikationen über religiöse Haltungen zum Tod, entsprechende religionswissenschaftliche Studien zum Beginn des Lebens sind hingegen rar. Es kann vermutet werden, dass ein gewisser Forschungs-Androzentrismus für die mangelnde Berücksichtigung dieser spezifisch weiblichen Erfahrungsbereiche mitverantwortlich ist. Schwangerschaft gilt im sozialwissenschaftlichen Kontext zudem oft als natürlicher Prozess und damit als asozial und ahistorisch. Marcel Mauss (1872–1950) folgend ist der biologische Prozess der Geburt (und, könnte man hinzufügen, der Schwangerschaft) jedoch untrennbar mit psychologischen, historischen und sozialen Prozessen verknüpft, welche in Form von rituellen körperlichen Praktiken und Erzählungen gestaltet, gedeutet und sozialisiert werden. Das kulturell verfügbare Wissen um das werdende Leben entsteht dabei nicht in einer Wissenschaft, sondern am Knotenpunkt mehrerer Wissenschaften (Biologie, Medizin, Psychologie, Theologie etc.) und speist sich überdies auch aus außerwissenschaftlichen Quellen.

Gegenstand meines Forschungsprojektes sind Aussagen über das Entstehen und die vorgeburtliche Entwicklung eines neuen Menschen im Kontext des alternativ-progressiven Milieus der Vereinigten Staaten der 1840er bis 1860er Jahre, des deutschsprachigen Okkultismus der Jahrhundertwende und der Ariosophie sowie dem globalen holistischen Milieu der Gegenwart. Bücher, Periodika und digitale Quellen sind wichtige institutionelle Träger des zu untersuchenden Schwangerschaftsdiskurses, der die Möglichkeitsbedingungen des zu diesem Thema Denk- und Sagbaren bestimmt. Ich versuche zu rekonstruieren, was in diesen Kontexten als Wissen akzeptiert wurde und für werdende Mütter und Väter Orientierung und Handlungsanleitung sein konnte. 

Bezüglich des alternativ-progressiven Milieus konnten bereits zentrale Bereiche dieser Wissensordnungen herausgearbeitet werden. Erstens gibt es ein wirkmächtiges viktorianisches Ideal der spirituellen Sexualität, welches die Beziehung zwischen Frau und Mann bestimmt. Zweitens ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind mit der Hoffnung auf und der Verantwortung für ein neues Zeitalter verbunden. Besonders in diesem Zusammenhang werden physiologische und metaphysische Überlegungen über den Vorgang der Zeugung und die Entwicklung des ungeborenen Kindes sichtbar. Drittens ist Schwangerschaft mit einem Diskurs über die Gesundheit der Mutter verknüpft, die im Begriff der ursprünglichen Harmonie gefasst wird. Daneben treten mehrere Spannungsfelder zutage, die etwa das Verhältnis von Frauenrechten und Eugenik betreffen oder die Vorgänge der Pathologisierung, Normalisierung und Sakralisierung von Schwangerschaft.

Die Forschung geht nicht von vornherein von einer durchgängigen Traditionslinie alternativer Religiosität aus, sondern will unterschiedliche Milieus mit Fokus auf den genannten Aspekt in ihrem jeweiligen Kontext verstehbar machen. Abschließend soll in einem analytischen Vergleich nach Bedingungen und Voraussetzungen vorgefundener Gemeinsamkeiten und Unterschiede gefragt werden.