Die visuelle Kultur des Sufismus in Wien: Einblicke in die Blickkultur des mystischen Islam am Beispiel der Chishti-Inayati und der Halveti-Dscherrahi


In der Auseinandersetzung mit dem Islam ist dessen Mystik eine bedeutende Brücke. Ziel des aktuellen Forschungsprojektes ist es, Einblicke in einen wichtigen Bereich der religiösen visuellen Kultur des "mystischen Islam" oder Sufismus in Wien zu geben. Obwohl der Islam, ebenso wie auch das Judentum und das Christentum, eine Tradition des Bilderverbots und der Bildzerstörung hat, spielen in dieser religiösen Lebensbewältigungspraxis Bilder eine wesentliche Rolle. Sie organisieren die Kommunikation mit der transzendenten Instanz, sie dienen dem Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses und sie erzeugen religiöse Bedeutung, indem sie über die Imagination das religiöse Sinnsystem mit den Gefühlen des Betrachters verbinden. Visuelle Zeichen formen und begrenzen dann den Spielraum der identitätsbildenden Kräfte, der sie ihre Entstehung verdanken.

Die Geschichte der monotheistischen Bilddebatten ist geprägt von wechselseitigen Abgrenzungen, Zuschreibungen und Identifikationen – von der Entstehungszeit der Religionen bis heute. Das Vorurteil, dass der Koran Bilder verbietet und die islamische Kunst der Ikonophobie nachgeht, wird oft mit dem Diskurs über die Bedrohung durch die "Islamisierung" des zeitgenössischen westeuropäischen Lebens in Verbindung gebracht und in Debatten über die europäische Identität instrumentalisiert. Zur gleichen Zeit wird es von Islamisten als Rechtfertigung für die völlige Zerstörung von künstlerischem Erbe verwendet - versinnbildlicht durch die Zerstörungen von assyrischen und parthischen Skulpturen durch den IS im Museum von Mossul und der wichtigsten antiken Ruinen von Palmyra im vergangenen Jahr. 

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, einer interessierten Öffentlichkeit die visuelle Kultur der mystischen Elemente des Islams zugänglich zu machen, die Gegenstand des Projektes sind. Innerhalb dieser mystischen Tradition wurde eine symbolische Bildsprache kultiviert, die ein wichtiger Bedeutungsträger ist. Dabei wird auch deutlich, dass sich theologische Dogmen und populäre Praxis nicht notwendigerweise entsprechen. 

De facto findet man in Wien Angehörige aller großen klassischen Orden, die oft aus muslimischen Kontexten stammen. Man trifft aber auch Konvertiten aus der westlichen Welt, die am Islam vor allem den Sufismus attraktiv finden. Es gibt ferner Gruppierungen, die versuchen, Sufi-Spiritualität der westlichen Welt in einem nichtislamischen Kontext zu übermitteln. Auch letztere verstehen sich als Erben des klassischen Sufismus, besonders auch in Hinsicht auf seine universalistischen, die Grenzen eines eng verstandenen Islam sprengenden Auffassungen. 

Es ist kaum möglich, die universal-religiösen Ideen des Sufismus ohne jegliche Zurkenntnisnahme des heutigen Selbstverständnisses klassischer Sufi-Orden angemessen zu verstehen. Deshalb sollen in diesem Projekt die visuelle Kultur zweier Orden untersucht werden. Als ein Beispiel dient die visuelle Kultur des Inayati Ordens, der auf den in der Tradition der Chishti stehenden Hazrat Inayat Khan zurückgeht, Thema meiner Untersuchung. Heutiges spirituelles Oberhaupt des Ordens ist Pir Zia Inayat Khan, der auf dem Lebenswerk seines Großvaters Hazrat Pir Murshid Inayat Khan (1882–1927) aufbaut, welcher schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Nordamerika und später in Europa wirkte, und seines Vaters Pir Vilayat Inayat Khan (1916–2004), der den Orden bis zu seinem Tod leitete. Ihre Lehre ist von einem aus mystischer Einheitserfahrung hervorgehenden universalistischen spirituellen Verständnis geprägt. Die Mitglieder dieser spirituellen Bewegung verstehen sich als eine Gruppe von Menschen aus verschiedenen Religionen, deren Zusammengehörigkeit sich u.a. in einem universellen Gottesdienst ausdrückt. Die in Wien bestehenden Gruppen dieser spirituellen Bewegung sind Gegenstand dieser Forschungsarbeit. Besondere Beachtung verdient, dass sämtliche lehrenden und seelsorgerlich-beratenden Aufgaben sowie alle Leitungsfunktionen von Frauen und Männern gleichermaßen wahrgenommen werden. Daher widmet sich dieses Forschungsvorhaben besonders auch der weiblichen spirituellen Kompetenz und den weiblichen Elementen im Sufismus.

Als weiteres Beispiel untersucht das Projekt die visuelle Kultur der Dscherrahi in Wien, einer der zahlreichen klassischen Sufi-Orden innerhalb des Islam und ein Zweig des Halveti (arabisch: Khalwati) Ordens. International ist sie hauptsächlich unter der Schreibweise Jerrahi bekannt, in der Türkei unter Cerrahî. Der internationale Bekanntheitsgrad des Ordens bei einem westlichen Publikum gründet auf Shaykh Muzaffer Ozak al-Dscherrahi al-Halveti (1916–1985), charismatischer Shaykh des Dscherrahi Derwisch-Ordens in Istanbul und 19. Nachfolger des Ordensgründers Pir Nureddin al-Dscherrahi al-Halveti, der ab Ende der 1970er Jahre mehrere Reisen nach West-Europa und in die USA unternahm, um dort die Derwisch-Zeremonie der Öffentlichkeit vorzustellen. Durch seine Reisen konnte er eine große Anzahl an Anhängern auf sämtlichen Kontinenten gewinnen. Die visuelle Kultur der in Wien ansässigen Angehörigen dieses Sufi-Ordens, die sich zu gemeinschaftlichen meditativen Übungen zur Vergegenwärtigung Gottes (dhikr) und anderen spirituellen und zeremoniellen Ritualen treffen, ist Gegenstand dieser Forschungsarbeit. 

Ein gemeinsames Merkmal beider Orden ist die Ermöglichung von Erlebnissen und Erfahrungen, die die üblichen, reglementierten Formen religiöser Erfahrung überschreiten. Eine zentrale Arbeitshypothese dieser Arbeit ist, dass visuelle Kultur und Religionspraxis ein Motor religiöser Pluralisierung ist.