Imagining Energy: The Practice of Energy Healing between Sense-Experience and Sense-Making
Energiearbeit gründet in der Annahme, dass das persönliche Wohlbefinden und die spirituelle Entwicklung maßgeblich vom ungestörten Fließen "feinstofflicher Energien" abhängen. Anwender konzipieren dabei das menschliche Energiesystem als unsichtbare Struktur von energetischen Bahnen, Zentren und Schichten. Ungleichgewicht oder Blockaden innerhalb dieses Systems würden zu seelischen oder körperlichen Störungen führen. Humanenergetiker setzen Techniken ein, die die Harmonie zwischen Körper, Seele und Geist durch den optimalen Ausgleich der vitalen Energien wiederherstellen sollen. Derzeit sind nach Angaben der Wirtschaftskammer Österreich bereits mehr als 18.300 gewerblich aktive Humanenergetiker bundesweit registriert (Stand: Oktober 2018). Dieser Zahl stehen im Vergleich nur rund 13.800 Ärzte für Allgemeinmedizin gegenüber. Auch in vielen Formen der transpersonalen Psychologie spielt die Kultivierung vitaler Energien eine zentrale Rolle, um Transzendenz-Erfahrungen zu ermöglichen bzw. solche in die Persönlichkeit zu integrieren. Trotz der herausragenden Bedeutung Energie-basierter Praktiken innerhalb der Schnittmenge zwischen Gesundheitsmarkt und religiöser Gegenwartskultur liegen bislang kaum empirische Studien zu diesem vielfältigen Themenfeld vor.
Ein Schwerpunkt dieses Forschungsprojektes besteht darin, Schlüsselkonzepte und Ritualelemente der Humanenergetik anhand von fünf Fallstudien im Großraum Wien zu identifizieren. In diesem Zusammenhang werden Themen wie vitale Wirkungsprinzipien (prāṇa / qì) und feinstoffliche Anatomien (cakras, nadi / dāntián, jīngluò) sowie die Settings und Abläufe von Heilungsritualen unter Berücksichtigung historischer Verbindungslinien und Einflüsse beleuchtet (Stichworte: Mesmerismus-Rezeption, theosophischer Orientalismus, Psychologisierung der Religion, Traditionelle Chinesische Medizin, holistisches Milieu). Zudem werden eher traditionalistisch ausgerichtete Zugänge der Energiearbeit in ihrem Verhältnis zu szientistischen Strategien untersucht. Letztere bezeichnen Diskurse mit stärkerer positiver wie negativer Bezugnahme auf die "säkularisierte" oder "entzauberte" Naturwissenschaft, Schulmedizin und Psychotherapie (Stichworte: boundary-work, Energiekonzepte, Vitalismus, Quantenheilung). Abweichend von der Dichotomie von "konventionell" und "esoterisch" als gebräuchliche Identitätsmarker für komplementäre bzw. ganzheitliche Heilpraktiken wird also ein theoretischer Rahmen entwickelt, der die Dynamik des Feldes differenzierter erfasst. Eine weitere Forschungsfrage richtet sich auf den Einsatz von Imagination in den konzeptuellen, performativen und ästhetischen Dimensionen der Humanenergetik. Schließlich werden Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Professionalisierung untersucht. Dazu zählen auch Entstehung und Aufbau von Institutionen, die Ausbildungen im Bereich Humanenergetik und transpersonale Methoden anbieten. Die marktorientierten Strategien des Feldes lassen sich somit tiefer begreifen.
Der zweite Schwerpunkt des Projekts beschäftigt sich am Leitfaden des kuṇḍalinī-Energie-Diskurses mit energetischen Konzepten in der transpersonalen Psychotherapie sowie der körperzentrierten Psychotherapie. Diese sollen ebenfalls in Bezug auf die Eigenart der angenommenen Wirkungsprinzipien, historische Zusammenhänge, boundary-work, sinnliche Erfahrung und Imagination untersucht werden.
Neben einer umfassenden Literaturrecherche werden qualitative Interviews mit führenden Anbietern energetischer Dienstleistungen geführt. Zusätzlich werden einzelne Schritte der Heilungsrituale bzw. Therapiesitzungen sowie ästhetische Merkmale von Behandlungsräumen im Rahmen von teilnehmenden Beobachtungen dokumentiert. Im Anschluss an die durchgeführten Fallstudien werden die Resultate vergleichend analysiert sowie neue Ansätze für eine systematische Klassifikation energetischer Praktiken eröffnet.